Unsere Wahrnehmung und deren Bedeutung 

 „Das Nicht-Wahrnehmen von etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz.“[x]

 

Wir Menschen vertreten zum Teil die Ansicht, dass das, was wir nicht wahrnehmen, nicht existiert oder ohne Bedeutung ist. Diese Ansicht führt zu Einschränkungen und hat Auswirkungen auf unser Handeln. In der heutigen Zeit, die durch Komplexität und Veränderungsprozesse geprägt ist, ist eine Offenheit für Nicht‑Bekanntes und Neues notwendig. Offenheit kann unter anderem durch Akzeptanz von Andersartigkeit, hinterfragen von Denkmustern, Authentizität, Transparenz und gegenseitigem Respekt sowie Wertschätzung erreicht werden.

 

Der Mensch ist neben der Natur unsere wichtigste Ressource. Mit dem Menschen sollte entsprechend respektvoll und wertschätzend umgegangen werden, denn nur so ist es möglich, dass er sein Potenzial zum Wohle der Gemeinschaft entfalten kann.

 

Wo Menschen zusammenarbeiten und leben, entstehen Konflikte, die ein wichtiger Indikator für Veränderung und Entwicklung sein können. Der konstruktive Umgang mit Konflikten ermöglicht das Nutzen des Potenzials, welches neben vielem anderem als unangenehm empfundenen, in einem Konflikt liegt.

 

Der Wahrnehmungsprozess 

Um den Wahrnehmungsprozess verstehen zu können, ist ein Ausflug in die die Wahrnehmungsforschung notwendig. Diese Forschung ist durch unterschiedliche Theorien geprägt, die zum einen die Ansicht vertreten, dass ein großer Teil der Art und Weise, wie wir wahrnehmen, genetisch bedingt ist, und zum anderen der gegenteiligen Auffassung sind, dass die Wahrnehmung durch Erfahrungen aus Interaktionen mit der Umwelt geprägt wird. Herrmann von Helmholtz ist ein bedeutender Vertreter der These, dass Wahrnehmung durch Erfahrung aus Interaktion geprägt sei. Nach seiner Ansicht ist der Wahrnehmungsprozess durch die unbewusste Interpretation einer Sache oder einer Situation charakterisierte: Der Wahrnehmende nutzt sein Vorwissen, um sich die Reize aus der Umwelt zu erklären. Durch Interaktion mit der Umwelt und den daraus gemachten Erfahrungen lernt der Mensch sein Erlebtes zu interpretieren sowie einzuordnen. Die Gestaltpsychologie vertritt im Gegensatz dazu die These, dass ein großer Teil der Wahrnehmungserfahrung angeboren ist. Vertreter dieser Ansicht (z.B. Kurt Lewin) sehen psychologische Phänomene als ein Ganzes, eine Gestalt. Sie erklären, dass die Phänomene nur zu verstehen sind, wenn man sie auch als Ganzes betrachtet, nicht aber, wenn sie in ihre Bestandteile zerlegt werden.[1] So ist die Wahrnehmung einer Person zum Teil angeboren und zum Teil in der Interaktion mit der Umwelt erlernt. Um den Wahrnehmungsprozess zu verstehen, ist es hilfreich, die einzelnen Bestandteile und deren Zusammenspiel zu betrachten.

 

Zuvor noch eine Definition des Begriffs Wahrnehmung.

 

„Im allgemeinen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff „Wahrnehmung“ auf den Gesamtprozess des „Erfahrbarmachens“ von Gegenständen und Ereignissen – d. h. wie sie empfunden, verstanden, identifiziert und etikettiert werden und wie man sich darauf vorbereitet, auf sie zu reagieren.“[2] Nach dieser Definition ist die Wahrnehmung ein Prozess, der es einem Menschen ermöglicht, seine Umwelt zu empfinden, zu verstehen, einzuordnen und zu verarbeiten. In diesen Prozess fließen Erfahrungen und die Bewertung eines Gegenstandes, eines Ereignisses oder eines anderen Menschen ein. Dieser zum großen Teil innerlich ablaufende Prozess bildet die Grundlage für die Reaktion auf einen Reiz aus der Außen- oder Innenwelt. Diese Reaktion kann als Reflex (unbewusst) oder als Handeln (bewusst) erfolgen. Die Wahrnehmung ermöglicht dem Menschen, sich ein Bild von seiner Umwelt zu machen, um so sein Überleben zu sichern. Bedingt durch die zahlreichen Einflüsse auf den Ablauf der Wahrnehmung, die Mehrdeutigkeit der Umwelt und die individuelle und somit singuläre Interpretation dieser durch eine Person, entsteht ein subjektiver, selektiver sowie komplexer Prozess.[3] Ein großer Teil des Wahrnehmungsprozesses des Menschen vollzieht sich unbewusst und ist daher schwer zu analysieren. Zu den unbewussten Prozessen zählen unter anderem all diejenigen, die in unserem Körper „automatisch“ ablaufen, wie zum Beispiel die Gehirnprozesse, die Atmung, der Blutkreislauf und die Steuerung der Bewegungsabläufe. Außerdem sind das eigene Bewertungsschema und der eigene Interpretationsprozess von Personen und Situationen dem Menschen selbst zum großen Teil nicht bewusst. Zu den bewussten Prozessen zählen dagegen zum Teil die Handlungen, ein Teil der Bedürfnisse und die eigene Lebensgeschichte.[4] Das Bewusstsein ist begrenzt. Diese Begrenzung schränkt die Anzahl der Ereignisse, die erkannt und verarbeitet werden können ein. 
 

Die Aufnahme von Reizen und Daten erfolgt über die Sinne des Lebewesens (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten).

 

Der Prozess der Rezeption und die Weiterleitung an das Gehirn sowie die dortige Verarbeitung und Datengewinnung können als „Bottom-up-Verarbeitung (also Verarbeitung „von unten nach oben“) bezeichnet werden.[1] In diesem zunächst daten-geleiteten Prozess fließen zusätzlich individuelle Erwartungen, Überzeugungen und Wissen sowie Erfahrungen mit ein, und auch die Motivation der jeweiligen Person spielt eine Rolle.[2] Dieser konzeptgeleitete Teil des Wahrnehmungsprozesses kann als Top-down-Verarbeitung (oben nach unten) bezeichnet werden.[3] Da jeder Mensch jeweils über seinen eigenen Schatz von Erfahrungen, Wissen, Überzeugungen und Erwartungen verfügt, ist dieser Prozess subjektiv und einzigartig. Menschen sind in der Aufnahme und in der Verarbeitung von Reizen sehr unterschiedlich. Deshalb nehmen sie eine vermeintlich gleiche Situation zum Teil anders wahr und generieren andere Informationen. Zusätzlich unterscheiden sich die Menschen in der Funktionalität ihrer Sinne. Zum Beispiel bestehen individuelle Unterschiede in der Schnelligkeit der Sinne, dem Hör‑, Seh‑ und Tastvermögen und Geruchssinn, die einen Einfluss auf die Wahrnehmung haben. Schlussendlich ist die Wahrnehmung nicht zuletzt abhängig von den Bedürfnissen[4] sowie eine Kombination aus Anlage- und Umweltfaktoren.[5] Dies bedeutet, dass ein Teil der Wahrnehmung durch das Innere des Menschen, der andere Teil von der Umwelt geprägt wird. Der Wahrnehmungsprozess ist daher „dynamisch und von ständigen Veränderungen“[6] geprägt.

 

Vereinfacht erklärt, geben die Nervenzellen zum Beispiel im Auge oder im Ohr Signale über die Nerven an die Neuronen im Gehirn weiter. Bei der Weiterleitung beginnt die erste Verarbeitung der Reize, die im Gehirn vervollständigt wird. Das Gehirn verfügt über unterschiedliche Schaltkreise, wobei jedes Sinnessystem seinen eigenen Bereich in der Großhirnrinde (Cortex) hat. Für das Sehen ist ein großer Teil des Hinterhauptlappens zuständig, für das Hören der Schläfenlappen.[7] Der präfrontale Cortex (Teil des Frontallappens) ist unter anderem für die „sachlich-kognitive Analyse von Situationen“[8] verantwortlich.[9] Im Gehirn werden die eingehenden Signale umgeformt, was deren Veränderung zur Folge hat. Nach dieser Umformung findet die Einordnung im Gehirn statt, für die der Mensch sein Wissen und seine Erfahrungen nutzt.[10] Für die Steuerung von Emotionen, Lernprozessen und Gedächtnis ist das limbische System, ein „Netzwerk von größeren und kleineren Hirngebieten“[11], zuständig.[12] Zum diesem zählt auch der Mandelkern (Amygdala), der die Bestimmung des Gefährdungspotenzials eines äußeren Reizes übernimmt.[13] Ein großer Teil des Wahrnehmungsprozesses läuft also quasi vollautomatisiert im Gehirn ab, ist somit nicht sichtbar und schlecht fühlbar, daher eher für den Wahrnehmenden unbewusst.

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[x] Dalai‑Lama – https://www.aphorismen.de/suche?text=%E2%80%9EDas+Nicht-Wahrnehmen+von+etwas+beweist+nicht+dessen+Nicht-Existenz.%E2%80%9C, Zugriff am 31.01.2018

[1] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 143

[2] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 110

[3] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 144

[4] vgl. Schönflug, Schönflug (2014), S. 132

[5] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 112

[6] Goldstein (2015), S. 7

[7] vgl. Goldstein (2015), S. 5–7

[8] Roth, Ryba (2016), S. 102

[9] vgl. Roth, Ryba (2016), S. 102

[10] vgl. Goldstein (2015), S. 5–7

[11] Roth, Ryba (2016), S. 103

[12] vgl. Roth, Ryba (2016), S. 103–104

 



[1] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 112–113

[2] Zimbardo, Gerrig (1999), S. 106

[3] vgl. Zimbardo, Gerrig (1999), S. 110

[4] vgl. Goldstein (2015), S. 164–166

[5] vgl. Csikszentmihalyi (1999), S. 47